Zwischen „denen da oben“ und „uns hier unten“
Am 20. Juni 2018 luden die Freien Wähler Mainz E.V. gemeinsam mit der Stadtratsfraktion der Freien Wähler – Gemeinschaft (FW-G) zur Veranstaltung „Lehren aus dem Bibelturm – Bürgerbeteiligung! Aber wie?“ ein. Ziel war es, die Vielschichtigkeit des Themas Bürgerbeteiligung samt Chancen und Herausforderungen darzulegen und daraus konkrete Handlungsempfehlungen für die Stadt Mainz abzuleiten: Was ist zu tun und was ist zu vermeiden, um in Zukunft die Bürgerinnen und Bürger effektiv einzubeziehen?
Um diese Fragen zu beantworten, holte sich die Fraktion einen Experten ins Haus: Dr. Tobias Klug ist Geschäftsführer des Unternehmens „Wer denkt was GmbH“. Gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berät er Städte und Gemeinden bei der Umsetzung von Bürgerbeteiligungsprojekten mithilfe digitaler Medien. Bürgerbeteiligung muss frühzeitig stattfinden, um konstruktiv zu sein. “Bürgerentscheide sind konfrontativ, aber wenn es dann tatsächlich zu einem Bürgerentscheid kommt, müssen die Ergebnisse auch als Mehrheitsentscheidungen anerkannt werden“, diagnostiziert Dr. Klug, selbst Mainzer. Mit Blick auf die Bibelturm-Entscheidung sieht er genau dort eine Schwierigkeit: “Das Ergebnis des Bürgerentscheids werde noch immer diskutiert und in Frage gestellt. Dies läge daran, dass der Prozess im Vorfeld verbesserungswürdig gewesen sei”
Bürgerentscheid vs. Bürgerbeteiligung
Er deutet damit an, dass ein Bürgerentscheid allein in dieser Frage offenbar nicht ausreichte, um die Mainzerinnen und Mainzer adäquat einzubinden. Wichtig ist dabei, dass man strikt zwischen Bürgerentscheid und Bürgerbeteiligung unterscheidet. Der Bürgerentscheid ist als direktdemokratisches Instrument auf ein klares JA oder NEIN zu einer festgelegten Sachfrage ausgerichtet. Kompromisse haben keinen Raum. Die Bürgerinnen und Bürger haben über ihr Votum lediglich die Möglichkeit, ihre Zustimmung oder Ablehnung auszudrücken. Die Bürgerbeteiligung hingegen zielt auf eine konsensfähige Lösungsfindung ab und will konfrontative Zuspitzungen abmildern. Sie lässt mehrere Perspektiven zu und nimmt die Bürgerinnen und Bürger vor allem als Alltagsexperten ernst, anstatt sie nur als Abstimmungspersonal zur Urne zu rufen.
Spielregeln für Bürgerbeteiligung
Das erste Etappenziel einer gelingenden Bürgerbeteiligung muss der Abbau von Misstrauen gegenüber „denen da oben“ sein, damit sich die Bürger auch beteiligen wollen. Frühzeitige Kommunikation ist dabei unerlässlich. Laut Klug sollen dafür klare „Spielregeln“ der Bürgerbeteiligung transportiert werden, damit jeder/r weiß, woran er ist. Diese sogenannten Leitlinien müssen definiert werden. Dafür wird eine feste Arbeitsgruppe eingesetzt, die regelmäßig tagt und diese Richtlinien ausarbeitet und formuliert.
Zweitens muss klargestellt sein, was diese Leitlinien leisten können. Hier bedarf es einer glaubhaften Selbstverpflichtung des Stadtrates, Beratungen sowie ggf. ein Votum einer solchen Arbeitsgruppe zu berücksichtigen. Umgekehrt muss drittens klar kommuniziert werden, was Leitlinien nicht können. So müssen sich auch die beteiligten Bürger darüber im Klaren sein, dass Bürgerbeteiligungsprozesse die politischen Entscheidungsfindungsprozesse im Stadtrat keinesfalls ersetzen werden. Eine frühzeitige, klare und ehrliche Kommunikation zu diesen drei Aspekten ist das A und O.
Online ist nicht alles
Eine Kombination von Online- und Offline-Angeboten zur Bürgerbeteiligung hält Klug für besonders effektiv. Gleichzeitig warnt er aber: „Mal eben eine Internet-Seite aufsetzen – damit ist es nicht getan!“ Mit Online-Auftritten schafft man schnell und leicht Öffentlichkeit für ein Thema – insbesondere bei jungen Menschen. Veranstaltungskalender, Newsletter, Sachinformation, Aufrufe im Internet zu verbreiten und zu pflegen, ist daher ein MUSS. Gleichzeitig sollte damit immer auch eine Anregung verbunden werden, das online geweckte Interesse auch offline einzubringen, bspw. in Workshops und bei Info-Veranstaltungen.
Meinungsbild ohne Repräsentativität
Abschließend betont Klug, dass Bürgerbeteiligung nicht den Effekt eines repräsentativen Meinungsbildes der Stadtbewohner haben kann und soll. Deshalb hat die Bürgerbeteiligung im Gegensatz zum Bürgerentscheid auch ausschließlich beratenden und nicht Abstimmungs-Charakter. Dies zieht automatisch eher extreme, polarisierende Meinungen an, die unter einen Hut zu bringen sind. Dahinter tritt eine oft unentschiedene oder uninteressierte Mehrheit zurück. Insofern erfüllt eine frühzeitige Bürgerbeteiligung auch einen Selbstzweck: Die wenigen, besonders engagierten Meinungsbildner werden sichtbar, sodass andere (noch) nicht Interessierte aufmerksam werden und sich ebenfalls eine Meinung bilden und diese ausdrücken können.
FW-G bleibt weiter am Ball
Die Stadtratsfraktion der Freien Wähler – Gemeinschaft (FW-G) hat sich seit Beginn der Legislaturperiode kontinuierlich für mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung eingesetzt. Mit parlamentarischen Initiativen beispielsweise gegen den Verkauf von Bürgerdaten, für die Veröffentlichung von Fraktionsausgaben sowie Tonaufnahmen der Ratssitzungen im Internet, für die Einsicht in Geschäftsberichte städtischer Tochterfirmen wie im Fall der Mombacher Klärschlammverbrennungsanlage, für eine sehr frühzeitige Offenlegung von Architektenentwürfen im Zusammenhang mit dem Bibelturm uvm. legte und legt die Fraktion weiterhin den Finger in die Wunde und konfrontiert die Stadtverwaltung mit ihrer viel zu lange vernachlässigten Pflicht: die Mainzerinnen und Mainzer zu informieren und zu beteiligen an dem, was in ihrer Stadt geschieht. In diesem Sinne wird ein Vertreter der FW-G an den Leitlinien zur Bürgerbeteiligung mitarbeiten. Die Fraktion ist daher offen und dankbar für diesbezügliche Anregungen, Hinweise und Wünsche seitens der Mainzerinnen und Mainzer. Bitte kontaktieren Sie uns!